Langzeitstillen ist eine Frage der Bewertung
Was ist überhaupt Langzeitstillen? Ab wann wird von Langzeitstillen gesprochen? Und warum entscheiden sich Frauen dafür? Und was macht das mit ihrem Umfeld?
Für den Begriff „Langzeitstillen“ gibt es keine eindeutige Definition. In Deutschland sind es gestillte Kinder, die älter als 12 Monate alt sind, in anderen Kulturen auch später. Es gibt Forschungsarbeiten, die belegen, dass die physiologische und artgerechte Stilldauer des Menschen bei 2,5 bis 7 Jahren liegt. Eine repräsentative Studie in Deutschland belegt aber, dass nur 16% der Kinder länger als 12 Monate gestillt werden. Entsprechende Studien für ein späteres Alter gibt es erst gar nicht.
Wir haben mittlerweile gute Ersatzprodukte, die klinisch getestet und von Säuglingen und Kleinkindern gut vertragen werden. Es gibt also Alternativen. Und natürlich eine gut funktionierende Werbekampagne für diese Produkte.
Interessanter Weise erleben Frauen, die gar nicht stillen und Frauen, die länger stillen Ähnliches, nämlich, dass sie in ihrer Entscheidung bewertet werden. Wenn Frau nicht stillen möchte (und die Liste der möglichen Argumente dafür ist lang!), muss sie sich und es erklären. Wenn Frau länger stillt, bekommt sie gut gemeinte Ratschläge, Kommentare, Blicke oder interessierte Fragen, z.B. wie alt das Kind denn sei, was nichts anderes preisgibt, als den Vergleich mit sich selbst oder der vermeintlich allgemein gültigen Norm.
Diese Bewertung der eigentlich sehr persönlichen Entscheidung betrifft natürlich nicht nur das Thema „Stillen“. Frauen lernen beim Mutterwerden ganz schnell eins: sie können es im Grunde genommen nur falsch machen. Gewünschter Kaiserschnitt, Hausgeburt, Fremdbetreuung ab wann, zu früh zurück in den Beruf, zu spät oder gar nicht – zu fast allen Themen in Bezug auf Fürsorge und Erziehung gibt es Meinungen, die sehr gern auch ungefragt kundgetan werden. Der Grad des gesellschaftlich akzeptieren Weges ist schmal. Und wenn Frau dieser Norm nicht entspricht, wird sie oder ihre Entscheidung hinterfragt, kritisiert oder abgewertet.
Das Photoprojekt „Langzeitstillen“ möchte deshalb eins: persönliche Stillbeziehungen portraitieren und dadurch das Langzeitstillen sichtbar machen. Sie sind ein Weg, den die Mutter und das Kind wählen können (es gehören nämlich beide dazu), nicht der einzige.
Auch wenn der Begriff „Langzeitstillen“ möglicher Weise bereits eine Wertung vermuten lässt und einige deshalb für die Umbenennung in „Normalzeitstillen“ plädieren, bleibe ich bewusst bei dem Ursprungswort. Denn egal, ob eine Mutter lang, kurz oder gar nicht stillt, es liegt an uns, diese Entscheidung denen zu überlassen, die es betrifft.
Ich wünsche mir mehr Bewertungsfreiheit im Umgang mit Eltern, speziell mit Müttern. Sie geben ihr Bestes und suchen nach dem besten Weg für sich und für das Kind. Das Ergebnis ist so individuell wie ihr Fingerabdruck.
Seit Anfang 2024 portraitiere ich Mütter und ihre Kinder, die länger als ein Jahr lang stillen. Dabei besuche ich sie an einem Ort ihrer Wahl, dort, wo so leben und wo sie stillen. Die Situationen sind dokumentarisch entstanden. Es ist mir ein Anliegen, die Stillbeziehung so authentisch und so individuell wie möglich festzuhalten.
Jede Geschichte hinter den Bilder ist individuell, die Beweggründe unterschiedlich. Sie alle haben bei dem Projekt mitgemacht, weil sie von der Idee überzeugt sind, dass das Langzeitstillen gesellschaftsfähig gemacht werden muss, das bedeutet, dass Frauen nicht länger sozial diskriminiert, sondern in ihren persönlichen Entscheidungen ernst und wahrgenommen werden.
Der WDR berichtet über das Photoprojekt
Die Journalistin Kristin Trüb ist auf mein Projekt aufmerksam geworden und hat für die Lokalzeit einen Beitrag erstellt. Ab Minute 13:15 fängt es im unten aufgeführten Link an.