Letztens habe ich meinem 5jährigen Sohn eine Geschichte vorgelesen, die Kindern ganz nach dem Motto: „Du bist genau richtig so wie du bist!“ Mut machen soll. Ein sehr schönes Buch, das immer wieder von ihm ausgewählt wird. Aber es ist auch die Rede davon, dass die Kinder mal in Pfützen springen und mal das schönste Lächeln aufsetzen. Das Kind sitzt dabei mit einer Fliege (!) auf einem Hocker vor einem heruntergerollten Hintergrund, so wie es in Photostudios üblich ist. Ganz ehrlich – es fällt mir schwer, diese Seite vorzulesen. Das soll das schönste Lächeln sein? Bei dem ich denke, dass es genau mein Kind zeigt, seine unverwechselbare Identität, seine Wesen? Oder zeigt das Photo nicht viel mehr die aktuellen gesellschaftlichen Werte? Das, was angeblich schön ist?
Nicht für mich.
Ich mag Bilder, die die Geschichte des ganzen Lebens und die Bandbreite vieler Emotionen erzählen. Ja, auch Bilder, auf denen Kinder oder andere Menschen lächeln, aber nicht etwa, weil sie es auf Knopfdruck müssen, sondern, weil es aus einer Situation entspringt. Aber auch Bilder, auf denen Tränen zu sehen sind oder ein fragender Blick. Bilder, die den Alltag zeigen – das Leben eben – so wie die schmutzigen kleinen Fingerchen mit den vielen Sandkörnern, die eine Erdbeere in den Mund schieben oder den Medienkonsum des Großen. Das Leben ist so vielseitig, die Natur macht es uns vor, wieso sollten es dann nur Photos geben, auf denen wir in die Kamera schauen und freundlich lächeln?
Die dokumentarische Photographie macht es möglich, dass alles ok ist, alles auf seine Weise schön. Und das mag ich so an ihr. Wenn ich photographiere, erwarte ich nichts, habe ich kein fertiges Bild im Kopf, kein „so-soll-es-sein“. Jedes Mal bin ich gespannt, was ich erlebe, was ich erfahre, wie die Familie lebt, woran mich die Familie teilhaben lässt. Denn, wenn wir alle aufhören zu tun, was die anderen sagen oder erwarten, fangen wir an zu sein, wie wir wirklich sind.
Die Seite im Buch habe ich beim Vorlesen nun etwas umformuliert: „Manchmal springst Du in Pfützen und manchmal setzt Du Dich kerzengerade auf einen Hocker hin. Und beides ist genau richtig.“ Für mein Kind ist es logisch. Für mich so auch.